Von 1923 bis heute: Die Geschichte der Radionachrichten

Von Dietz Schwiesau

„Die News in den ersten Satz“, „Wichtiges nach vorn“,“von hinten kürzbar“ und „in einfachen Worten, bitte!“: Die Regeln für (Radio)Nachrichten sind streng und klar. Seit Jahrzehnten schon. Viel Wandel war nicht in gut neunzig Jahren deutscher Radiogeschichte, die Nachrichten klingen heute im Prinzip noch genau so wie 1923.

„Unsere Redaktion erblickt in der Erreichung des richtigen Rundfunkstils eines ihrer Hauptziele.“

So formulierte es Josef Räuscher, der erste Nachrichtenchefs des deutschen Rundfunks im Januar 1927, nur vier Wochen nach seinem Amtsantritt. Der Nachrichtendienst verlange eine völlig neue, den eigenen Gesetzen der Rundfunkvermittlung unterworfene journalistische Arbeit.

Eine bemerkenswerte Äußerung, denn die Öffentlichkeit sieht im neuen Medium Hörfunk noch eine „akustische Schnellpresse“ oder eine „gesprochene Zeitung“. Dagegen ist Räuscher sicher, dass sich mit den Nachrichten im Hörfunk etwas Neues entwickelt:

„Unsere Arbeit wird rascher Klang, nicht bleibendes Schriftbild!“

Die Nachricht, so schärft er seinen Mitarbeitern ein, „wird nicht auf dem Schreibtisch des Redakteurs“ fertig, sondern „erst im Kopf des Hörers“. Räuschers zentrale Frage ist: Welche „stilistischen Möglichkeiten“ hat der Redakteur, „einen Tatbestand annähernd vollkommen und leicht über das Ohr in das Gehirn des Hörers zu bringen“? Nachrichtensendungen aus den 20er Jahren sind leider nicht erhalten. Die älteste – uns bekannte – Aufnahme stammt vom 13. Februar 1932:

Nachrichten des Drahtlosen Dienstes: Erst das Wetter, dann die Poltik, die aber minutenlang. (Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv)

1932 muss Josef Räuscher gehen. Seine Redaktion wird aufgelöst. Auch wenn es Räuscher nicht gelungen ist, seine Erkenntnisse vom Hörstil (pdf) vollständig in die Praxis umzusetzen, so hat er in nur sechs Jahren die Grundlagen des Nachrichtenarbeit im Hörfunk gelegt – und sie jahrzehntelang geprägt.

Nachfolger Räuschers wird der 32-jährige Hans Fritzsche, der zu den wichtigsten Mitarbeitern des Nazi-Propagandachefs Goebbels gehört. Fritzsche bricht mit der Nachrichtenauffassung Räuschers: In den Rundfunknachrichten sieht er eine „Propagandawaffe“, Objektivität ist für ihn ein „Feigenblatt einer getarnten Tendenz“. Die „Idee, von der auch der Mann des Rundfunknachrichtendienstes ausgehen“ müsse, sei „die nationalsozialistische Idee“. Und so klingen die Nachrichten auch.

„Nachrichten 1. Mai 1933“ aus Faszination Radio. Veröffentlicht: 2008

Nach dem Zweiten Weltkrieg prägen die Alliierten im Westen Deutschlands auch die Gestaltung der Nachrichten. Der spätere Hörfunkdirektor des WDR, Fritz Brühl, erinnert sich:

„Nur wenige machen sich heute noch eine Vorstellung davon, welchen Umbruch in der deutschen Publizistik es bedeutete, als die Amerikaner und Engländer – planvolle Umerzieher, die sie waren – das Lead für jede Meldung als verbindlich zu erklären und überzeugend darzulegen wussten, daß eine zeitgemäße Information nur so und nicht anders zum Erfolg kommen könne.“

Dazu gehört auch eine „zielbewusst geplante Änderung“ der Sprache der Deutschen, schreibt später Gerhard Rolf Matthäus. „Von einem besseren Deutsch erhoffte man sich bessere Deutsche.“ Doch auch wenn die Nachrichten keine Propaganda mehr verbreiten – verständlicher werden sie nicht. So klagt der Nachrichtenchef des Bayerischen Rundfunks, Clemens Martin, 1960:

„Die Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, zuverlässig, klar einfach, für jedermann verständlich und mit einer zweifelsfreien Deutlichkeit unterrichtet zu werden. Aber ein Großteil der geschriebenen Sprache sträubt sich beim Sprechen im Munde.“

Doch die Nachrichtenhörer haben offenbar nicht nur Schwierigkeiten mit der Sprache, wie dieses Beispiel des Süddeutschen Rundfunks wunderbar zeigt:

Noch vor dem Wetter: Leiser, bitte! (Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv)

Das Fernsehen nehmen die Radioleute zunächst nicht als Konkurrenz wahr – bis sie in den 60er Jahren viele Hörer verlieren, vor allem am Abend.
Logo des Süddeutschen RundfunksVor diesem Hintergrund beginnen auch im Radio Reformen – nur die Nachrichtenredaktionen sperren sich. Die Programme  haben zwar jetzt mehr Sendungen im Programm, aber in Inhalt und Form sind die Nachrichten fest gefügt und stehen weiterhin in der Tradition von Josef Täuscher, wie dieses Beispiel, das wiederum vom Süddeutschen Rundfunk stammt, zeigt:

30. April 1963: Wolkenaufzug, Streik und „allgemeine weltpolitische Probleme“ (Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv)

Erst Ende der 1960er Jahre müssen sich auch die Nachrichtenredakteure des Hörfunks dem Reformdruck beugen. Als erste probieren Redakteure bei SFBeat aus, die Nachrichten mal ganz anders zu präsentieren.

1969 – Nachrichten von SFBeat: Schmissiges Intro und Plauderton (Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv)

Doch erst 1971 entbrennt um die Rundfunknachrichten eine Debatte, die in dieser Dimension bis heute einzigartig ist. Ein Streit zwischen Radioforschern und Radiomachern, der alles in Frage stellt. In der Rückschau erklären Beteiligte später, es habe sich um eine „kontroverse, ja zum Teil feindselige Auseinandersetzung“ gehandelt. Der Nachrichtenchef des DLF, Hanns Gorschenek, schreibt rückblickend:

„Die Nachrichten gerieten in das Sperrfeuer wissenschaftlicher Untersuchungen.“

Damit meint er den (späteren) Tübinger Professor Erich Straßner. Er hat erstmals die Verständlichkeit von Hörfunknachrichten getestet und festgestellt:

„Die Rundfunknachrichten werden in ihrer jetzigen, historisch entwickelten sprachlichen Form ihrer Funktion, die breite Öffentlichkeit über die aktuellsten Sachverhalte zu informieren, nicht gerecht.“

Seine viel zitierte Kernthese ist:

„Bei der Vermittlung der Nachrichten durch den Rundfunk wird vor der Information ein Zaun von Sprache errichtet, der einem großen Teil der Konsumenten die Rezeption unmöglich macht…“

Der Streit ist so heftig und grundsätzlich, dass er nicht nur Fachleute beschäftigt, sogar Bundespräsident Heinemann schaltet sich ein. DER SPIEGEL schreibt 1972:

„Wenn aus dem Radio der Gongschlag ertönt, übt sich mancher deutsche Bürger in Resignation. Denn die neuesten Nachrichten, die dann folgen, versteht er meist nur schlecht und oft falsch.“

Die Diskussionen um die Nachrichten und der Konkurrenzdruck des Fernsehens bleiben nicht folgenlos. Seit dem Ende der 60er Jahre erleben die Nachrichten einen beispiellosen Innovationsschub. So gibt es bei beim Saarländischen Rundfunk seit 1970 die ersten Nachrichten mit Einspielern.

1973 – Nachrichten der Europawelle Saar: Ein Reporterstück in den Nachrichten. Per Telefon! Das war hörbar anders. (Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv)

Den Nachrichtenredakteur am Mikrofon erleben in den 70er-Jahren die Hörer des Südwestfunks. Redakteure lesen beim SWF zunächst Presseschauen, seit Anfang 1972 sprechen sie auch Nachrichten selbst – in der reformierten Zeitfunksendung „Tribüne der Zeit“. Redaktionsleiter Roland Schrag meint, so wolle man den Nachrichten ihren ‚Verkündigungsstil‘ nehmen. Der Redakteur müsse sich seine Nachrichten ‚auf den Mund‘ schreiben, was dazu führen solle, „daß die Nachrichten mit der Zeit den Charakter des Offiziösen verlieren“. Logo des SWF
Damit habe man sich auf ein Terrain begeben, dass zuvor noch „niemand in der Bundesrepublik beackert“ habe. Dabei sei es lange Zeit undenkbar gewesen, daß die „heilige Kuh herkömmlicher Rundfunk-Nachrichten“ eines Tages auch in Deutschland „unters Messer kommen“ könnte. Auch die ersten Nachrichtensprecherinnen dürfen ans Mikrofon. Davon sind nicht alle begeistert, so wie der Nachrichtenchef des BR, Clemens Martin. Er notiert 1976; er habe grundsätzlich nichts gegen weibliche Sprecher. Allerdings habe er erst kürzlich die weibliche Renommiersprecherin der Tagesschau (Dagmar Berghoff) gesehen, die ihm leid getan habe:

„Der Umgang mit der trockenen Materie der Nachrichten nahm sie geistig so in Anspruch, so daß sie völlig vergaß, in ihrem sonst recht lieblichen Antlitz noch einige entspannte Züge zu pflegen.“

Der SWF probiert, mit zwei Sprechern die Sendungen lockerer zu gestalten:

1971 – SWF-Nachrichten. Einmal du, einmal ich: Zwei Stimmen im Wechsel (Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv

Der Hessische Rundfunk bietet 1971 seinen Hörern erstmals „Nachrichten mit Hintergrund“. Dazu kommt ein Redakteur ins Studio, der den Hintergrund ausgewählter Nachrichten erläutert.

1973 – HR-Nachrichten. Erklärung mit Ansage: „Hören Sie zu dieser Meldung eine Erläuterung der Redaktion“. (Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv)

Der Bayerische Rundfunk und andere Programme experimentieren mit Nachrichtensprechern, die ihre Meldungen frei formulieren. Logo des Saarländischen Rundfunks

Während sich Wissenschaftler dafür aussprechen, warnen Praktiker davor, „sich von der schriftlich fixierten Nachricht abzuwenden“. Das empfehle sich nicht wegen der Kürze, Präzision und Kontrollierbarkeit.

„Die frei improvisierte Nachricht wirkt oft allzu schwatzhaft, zungenfertig und inhaltsarm.“ Der Saarländische Rundfunk geht einen anderen Weg, er sendet ab 1980 ein Nachrichtenmagazin:

Mit Supermario-Sound, Trommeln, Einspielern: Nachrichten werden gestaltet. (Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv)

1980 kommt der Nachrichtenchef des SDR, Rudolf Fest, zu dem Schluss:

„Früher einmal –  das war in der Zeit, bevor die Wissenschaftler die Nachrichten entdeckten – beschränkte sich der Ehrgeiz eines Redakteurs darauf, schnell und zuverlässig zu informieren. Er dachte kaum oder nur wenig daran, ob diese Informationen auch vom Hörer aufgenommen werden. Das hat sich geändert.“

Die Nachrichtenredakteure bemühen sich erkennbar um eine lockere Sprache, wie an diesem Beispiel des SWF deutlich wird:

1982 – SWF-Nachrichten. Koalitionen platzen, Politiker nehmen Hüte: Die neue Nachrichtensprache. Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv

Der Nachrichtenchef des SDR weiß aber auch, dass die ARD-Nachrichten an vielen Hörern vorbei senden. Fest und die anderen ARD-Nachrichtenchefs kommen 1979 in einem gemeinsamen Positionspapier zu einer bemerkenswert selbstkritischen Einschätzung:

„Die Nachrichten sind hinsichtlich ihrer Themenkataloge und Darbietungsformen reformbedürftig. Die Nachrichten enthalten für viele Hörer immer noch unüberwindliche Sprachbarrieren.“

Hinweis: Dieser Text ist erstmals auf der Internetseite von Sandra Müller erschienen. Vielen Dank für’s Bereitstellen.

Comments are closed