Das Protokoll der Jahrestagung

Moderne Radionachrichten: Alles ist im Umbruch

Von Dietz Schwiesau

Vor 30 Jahren, am 11. und 12. Oktober 1988, haben sich die „ARD-Abteilungsleiter Nachrichten Hörfunk“ zu ihrer Jahreskonferenz in Berlin getroffen, genauer: im Westen der damals geteilten Stadt. Am ersten Tag tagten die Nachrichtenchefs beim SFB in der Masurenalle und am zweiten Tag beim RIAS in der Kufsteiner Straße – dort, wo heute Deutschlandfunk Kultur seinen Sitz hat. Die 14 zumeist älteren Herren besuchten die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin und hatten auch noch ein paar Sachen zu besprechen: den Austausch von „exclusiven Informationen“, das Angebot der Nachrichtenagentur AFP, die Fortbildung, die Einführung neuer Nachrichtenformen („Newsshow bei Radio Bremen“) und die Nachrichten in der ARD-Nachtversorgung.

Das Hauptthema aber war die umstrittene „Einführung von Elektronik“ in den Redaktionen. Im Protokoll, das man hier nachlesen kann (.pdf) heißt es, eine Umfrage habe ergeben, dass „immer mehr Anstalten dazu übergehen, ein Nachrichtenverteilsystem einzuführen“. Die Situation sei „sehr unterschiedlich“. So habe der Bayerische Rundfunk bereits zehn Geräte installiert, der Norddeutsche Rundfunk arbeite an einem Versuchsmodell.

Weiter heißt es: „Radio Bremen beobachtet die Situation.“ Und „SFB: Im Moment geschieht noch nichts.“ Grundsätzlich herrsche zwischen allen aber „Übereinstimmung, dass ein Redigieren am Bildschirm nicht möglich“ sei. Vielmehr müssten „alle Meldungen, die bearbeitet werden, auf jeden Fall ausgedruckt werden“. Wenn die Meldung im „System“ geschrieben werden solle, so sei dies „eine Aufgabe der Sekretärinnen“.

Das war 1988. Seither hat sich viel getan. Die Nachrichtenarbeit im Hörfunk hat sich grundlegend verändert. Und sie verändert sich weiter: Die Produktion der Nachrichten, die Verbreitung und der Empfang, auch die Sicht auf die Nachrichten und das Radio selbst wandeln sich.

1. Die Produktion der Radionachrichten

Die Computer haben in den Nachrichtenredaktionen des Hörfunks Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre Einzug gehalten. Sie haben die Fernschreiber und Schreibmaschinen verdrängt, und mit ihnen auch die Nachrichtensekretärinnen. Mit dem Internet wurden die Redakteure ab Mitte der 90er Jahre ein Teil der großen, weiten Informationswelt. Die digitale Hörfunktechnik löste die Bandmaschinen ab und veränderte die Audioproduktion grundlegend. Inzwischen beginnen Computer auch, Nachrichten zu schreiben – und zu sprechen. Die ersten Nachrichten wurden bereits Anfang der 70er Jahre von Redakteuren präsentiert, inzwischen gibt es in vielen Redaktionen keine klassischen Nachrichtensprecherinnen und -sprecher mehr.

2. Die Übertragung und der Empfang der Radionachrichten

Die ersten Nachrichtensendungen aus dem Voxhaus wurden 1923 auf „Welle 400“ übertragen, also auf der Mittelwelle. Die Hörerinnen und Hörer saßen mit Kopfhörern vor ihren Detektor-Radios. Später kamen Kurzwelle, Langwelle und dann auch die Ultrakurzwelle hinzu. Diese Technologie aus den 40er Jahren dominiert auch heute noch, 70 Prozent der Deutschen hören Radio mit einem analogen Gerät. Die Digitalisierung der Übertragungswege kommt nur schleppend voran, und es ist weiterhin offen, wem dabei die Zukunft gehört: DABplus oder dem Internet. Für den Empfang gibt es inzwischen eine Fülle von Geräten: Fernseher, Computer, Tablets, Smartphones oder Smartspeaker wie Amazon Echo. Bastler tüfteln an einem Badezimmerspiegel, mit dem man Nachrichten hören und sehen kann. Das Internet der Dinge wird noch viel mehr möglich machen. Die nächste große Erfindung wird das Radio zum Skippen sein – das ist der Abschied von der linearen Radionutzung. Dank Spotify oder Apple Music kann Musik bereits so gehört werden. Das Skippen wird auch das Nachrichtenhören revolutionieren. Aus einem Sender für alle werden tausende Sender für viele.

3. Das Radio

Auch nach fast 100 Jahren ist das Radio ein Massenmedium. 77 Prozent der Deutschen – also 53 Millionen – hören täglich Radio. Doch die Reichweiten schmelzen, vor allem bei Jugendlichen. Die Konkurrenz wächst auch auf dem Audiomarkt. Bei Streamingdiensten wie Spotify kann sich jeder seine Musik zusammenstellen – oder wie bei einem Radioprogramm zusammenstellen lassen, gern auch mit Nachrichten. Podcasts, zu denen auch Nachrichtenangebote gehören, werden beliebter. Auf den Audiomarkt drängen Privatpersonen und Medienhäuser, die bisher keine Audios produziert haben. Radioprogramme konkurrieren im Internet mit Angeboten in aller Welt. Hat das Radio als Massenmedium eine Zukunft in der digitalen Welt? Um sich behaupten zu können, muss sich das Radio verändern, unabhängig vom künftigen Verbreitungsweg. Es muss für viele Menschen schnell und einfach nutzbar sein und relevant bleiben. Radio kann überleben, wenn es lineare, nicht lineare und interaktive Angebote miteinander verknüpft. Radiosender müssen sich zu multimedialen Marken entwickeln.

4. Die Nachricht

Eine Nachricht – das war bisher per Definition eine möglichst objektive Mitteilung über ein neues Ereignis, das für die Öffentlichkeit wichtig und interessant ist. Recherchiert und produziert von Journalisten, veröffentlicht in einer Zeitung, im Radio, Fernsehen oder Internet. Das Konzept, was eine Nachricht ist, verändert sich grundlegend, vor allem bei Jugendlichen. Nachrichten, das sind für sie auch noch die journalistisch aufbereiteten Informationen, aber nicht nur. Nachrichten, das sind für viele auch Informationen, Texte, Bilder, Videos bei YouTube, Snapchat, Instagram oder WhatsApp. Journalistische Qualitätskriterien wie Glaubwürdigkeit der Quelle spielen bei der Nutzung nur eine untergeordnete Rolle.

5. Die Konkurrenz

Die Radionachricht – das war einmal „das schnellste Mittel der journalistischen Information“. Das ist lange vorbei. Für 45 Prozent der Deutschen ist das Radio noch eine wichtige Nachrichtenquelle, für 10 Prozent sogar die Hauptinformationsmedium. Aber die Konkurrenz wird größer. Das Nachrichtenangebot ist explodiert. Neue Nachrichtenquellen, Plattformen, Übertragungswege und Endgeräte vervielfachen das Nachrichtenangebot. Nachrichten sind jederzeit und überall verfügbar. Neue Technik vereinfacht den Zugriff auf Nachrichten weiter. Nachrichten werden immer schneller. Die schnellsten Nachrichten sind heute nicht mehr die Radio-Nachrichten, sondern die Pushes von SPON, Tagesschau und anderen News-Apps. Nachrichten-Journalismus wird mehr und mehr Echtzeitjournalismus.

Die Besucher der Radiowerkstatt in Magdeburg sitzen auf einer Treppe
Experimenteure und Pioniere der ersten Zukunftswerkstatt Nachrichten 2014 in Magdeburg

Was bedeutet das für die Zukunft der Radionachrichten?

Was muss s(ich) in den Nachrichten ändern? Darüber tauschen sich Journalistinnen und Journalisten in Zukunftswerkstätten Radionachrichten aus: 2014 beim MDR in Magdeburg, 2015 beim SWR in Baden-Baden und 2018 beim RBB in Berlin. Teilnehmer waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ARD und des Privatfunks. Darüber hinaus gibt es regelmäßig Seminare der Medienakademie von ARD und ZDF sowie Workshops in Redaktionen. Das sind die zehn wichtigsten Punkte aus der Diskussion.

1. Traditionelle Nachrichtenregeln hinterfragen! Experimentieren!

Das wichtigste Ziel ist: Die Hörerinnen und Hörer müssen die Nachrichten besser verstehen! Nachrichtenpyramide oder Leadsatz: Das sind die Heiligtümer in Nachrichtenredaktionen, die wir in Frage stellen müssen. Wenn die Nachricht ein Paukenschlag ist, gehören die Informationen in den ersten Satz. Bei allen anderen Nachrichtenstoffen sind andere Einstiege denkbar: Wer verständliche Nachrichten bieten will, muss sie variabel aufbauen, der kann zum Beispiel auch mal mit einer moderativen Hinleitung beginnen, mit einem Hintergrundsatz oder mit einer Frage.

2. Mehr Radio! Mehr Aktualität!

Attraktives Radio – das sind Stimmen, Geräusche, Klänge, Töne, das sind Geschichten von Menschen. Das sieht jeder so. Aber gehört das auch in die Nachrichten? Ja, natürlich! Wir sollten frische Luft an die Nachrichten lassen. Nachrichten, das müssen auch emotionale, farbenfrohe Hörerlebnisse sein. Radionachrichten müssen auch schneller werden. Nachrichten sollten nicht darüber berichten, was war oder was sein wird, sondern über das, was ist. Feste Sendezeiten sind ein Ritual, das Verlässlichkeit schafft, aber Aktualität behindert.

3. Nachrichten stärker rein ins Netz!

Nur Nachrichten im Radio zu machen – das genügt nicht mehr. Das Radio muss mit seinen Nachrichten noch stärker rein ins Netz, es muss seine Informationen besser mit den anderen Medien verknüpfen. Radio und Internet ergänzen sich gut und sind keine Konkurrenten, sondern beste Freunde. In Newsrooms produzieren Redakteure von Radio, Fernsehen und Online gemeinsam Nachrichten. Diesen Weg der medienübergreifenden Nachrichtenproduktion und -verbreitung müssen die Redakteurinnen und Redakteure weiter gemeinsam gehen.

4. Abschied von Reflexen bei der Auswahl und Platzierung!

Radionachrichten – das sind meist Nachrichtenhäppchen: die ganze Welt in 2.30 Minuten. Oft die gleichen Themen, die gleichen Schauplätze, die gleichen Akteure. Wir berichten darüber, weil wir schon immer darüber berichten. Die Redakteure sollten weniger Themen bringen, dafür mehr einordnen, mehr erklären. Notwendig sind mehr Nachrichten aus der Perspektive der Hörer. Wir brauchen mehr Nachrichten, die Service und Gesprächsstoff bieten und die für Hörer wirklich relevant sind.

5. Im Dialog mit dem Publikum!

Wir müssen näher ran an die Hörerinnen und Hörer: Wir brauchen mehr Interaktion, mehr Dialog. Radio darf keine Einbahnstraße sein. Radiohörer sind nicht nur Konsumenten, sondern auch Quellen von Nachrichten – nicht nur bei Staus und Blitzern. Die Interaktion mit Hörern gehört zu den Aufgaben aller Nachrichtenredakteure, über soziale Netzwerke wie Facebook Twitter und WhatsApp gibt es dafür viele Möglichkeiten.

6. Die Zukunft der Radionachrichten heißt Heimat!

Nachrichten aus Deutschland und aller Welt gibt es inzwischen im Überfluss, auf allen Kanälen. Aber Nachrichten aus der Heimat? Dabei zeigen alle Umfragen: Die Leute wollen vor allem wissen, was vor ihrer Haustür, in ihrer Region passiert. Das ist die Chance des Radios. Die Zukunft der Radionachrichten – das ist die regionale Berichterstattung.

7. Persönlichkeit zeigen. Transparent arbeiten. Glaubwürdig sein!

Die Newsanchor im TV oder YouTube-Stars wie Le Floid machen es vor: Hier stehen Nachrichtenleute mit ihrem Namen für professionelle Nachrichten. Wer kennt schon eine Nachrichtenfrau oder einen Nachrichtenmann aus dem Radio? Wir brauchen Persönlichkeiten am Mikrofon. Sie informieren, ordnen ein, legen Hintergründe dar, die bekannt und glaubwürdig sind. Viele Nachrichtenquellen zu erschließen, Informationen zu verifizieren und aufzubereiten – diese Aufgabe bekommt einen neuen, herausragenden Stellenwert in der Nachrichtenarbeit.

8. Einfach schreiben, verständlich sprechen!

„Die Sprache der Radionachrichten ist Verständigungsmittel, nicht Preisrätsel!“ „Wer am Wortlaut der Rohdepesche klebt, ist Briefträger, nicht Redakteur!“ Diese Sätze stammen von Josef Räuscher. Er war vor 90 Jahren der erste Nachrichtenchef des deutschen Rundfunks. Räuscher wusste bereits: Radionachrichten haben ihre eigenen Gesetze. Das Publikum kann man nur mit einem „Hörstil“ erreichen, „der den Notwendigkeiten des Rundfunks entspricht“. Davon sind wir heute oft noch weit entfernt.

9. Erstklassiges Personal für erstklassige Nachrichten!

Wer erstklassige Nachrichten senden will, muss in die Nachrichten investieren. Nachrichtenmachen ist zum Volkssport geworden, auch im Radio. Es gibt seit Jahren einen starken Trend zur De-Professionalisierung. Nachrichtenmachen? Das kann irgendwie jeder – zumindest aus der Sicht vieler Chefs. Wir brauchen gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wir gut bezahlen, moderne Technik und vernünftige Arbeitsbedingungen.

10. Mehr Mut, Nachrichten anders zu machen!

Nachrichten im Radio gibt es seit 95 Jahren. Das ist eine lange Erfolgsgeschichte. Das ist aber auch eine Bürde. Bei allen Konferenzen und Workshops waren sich die Teilnehmer einig: Es ist nicht so einfach, den Rucksack „Geschichte der Radionachrichten“ abzulegen. Radionachrichten auch mal etwas anders zu machen, dazu gehört auch etwas Mut.

Quellen und weiterführende Links:

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